Rosaphob

Ich war sieben, als es begann.

 

‚He, Alois!‘, sagte Mutter zu mir.

 

Ich lag auf dem Boden in der Stube, mitten in den Staubfuseln, die schon an Altersschwäche zu sterben drohten. Ob die älter waren als ich?

 

‚Komm schon her, wenn ich es dir sage!‘

 

Das Superman-Comicheftchen legte ich beiseite und folgte dem wie immer forschen Befehl meiner Mutter.

 

‚Vater ist wieder besoffen und zu nichts mehr im Stande. Spiel ein wenig mit mir. Du darfst nebenbei ein bisschen fernsehen.‘

 

Dabei lag sie auf der zerschlissenen Couch, hatte ihre Beine angewinkelt und weit auseinandergespreizt. Ihre Oberschenkel erinnerten mich an das Werbemännchen einer französischen Reifenmarke. Kein Höschen. Nur ein hautenges T-Shirt, das ihre dicken Titten viel zu stark zur Geltung brachte und ein viel zu kurzer Rock, den sie viel zu weit nach oben schob.

 

‚Fass mich an, genau hier!‘

 

Ich starrte in ihr glänzendes Rosa, dann in ihr rundes Gesicht, mit den rosa bemalten Lippen und den vor Vorfreude leuchtenden rosa Backen.

 

‚Ich mag das.‘

 

‚Aber, ich …‘

 

‚Los Alois, mach schon, deine Hand, steck sie rein!‘

 

Widerspruchslos und schmatzend verschwand meine kindliche Hand in ihrer überdimensionalen Vagina, während Vater in der Küche am Tisch seinen Rausch auspennte. Mutter stöhnte. Im Fernsehen lief der rosarote Panther und versuchte, mich von meiner Handarbeit abzulenken.

 

‚Tiefer rein!‘

 

Paulchen, Paulchen mach doch weiter.

 

‚Wieder raus!‘

 

Heut ist nicht alle Tage.

 

‚Schneller!‘

 

Ich komm wieder, keine Frage.

 

Paulchen Panther kam wieder. Jeden Freitagnachmittag. Und ich versenkte meine kleine Faust in Mutters haariger, rosa Muschi. Jeden verfickten Freitagnachmittag. Seit dieser Zeit bin ich hochgradig rosaphob. Erdbeerjoghurt aß ich nur mehr auf strikten Befehl meines Vaters.

 

‚Jedes Kind mag Erdbeeren. Also iss‘ das Scheißjoghurt, Alois!‘

 

Ich kotzte es postwendend auf die Resopalplatte unseres Küchentisches. Vater drückte mein Gesicht in das Erbrochene, damit ich mir merkte, dass sich das nicht gehörte und ich erfahren durfte, wie gut Erdbeerjoghurt eigentlich schmeckte. Eine Kombination aus Schweißausbrüchen, Herzrasen und trockenem Mund überfiel mich jedes Mal, wenn ich in der Schule nur in die Nähe der vielen in rosa getünchten Mädchen kam.

 

‚Alois, was glotzt du so, du Trottel?‘

 

Die Gören glaubten, mein eindringliches Stieren wäre ein plumper Annäherungsversuch. Dabei waren es panische Abwehrversuche, Fluchtinstinkt. Auch die Lehrerin stand irgendwie auf rosa. Lippen. Fingernägel. Alles in verdammtem pink.

 

‚Stotter nicht so rum, Alois, ich hab‘ dich was gefragt!‘

 

Keine Ahnung was sie wissen wollte. Ich war außerstande mich auch nur auf irgendwas zu konzentrieren, außer die mir gefährlich näherkommenden rosa Fingernägel. Mir war, als witterte ich sogar Frau Lehrerins rosafarbenes Geschlechtsorgan durch ihren knöchellangen Baumwollrock hindurch. Fürs unerlaubte plötzliche Verlassen des Klassenzimmers musste ich Nachsitzen. Fürs Nachsitzen belohnte mich Mutter mit einer zusätzlichen Massage ihres Genitalbereiches. Dieses Mal leider ohne den rosa Panther zur Ablenkung, weil es war ja erst Donnerstag.

 

Obwohl Paulchen Panther die abscheulichste Farbe in seinem Namen trug, war er mein bester Freund. Ohne ihn hätte ich sicher nicht überlebt. Damals hatten wir noch keinen Farbfernseher. Der Panther stolperte in freundlich-neutralem mausgrau von einem Fettnäpfchen ins nächste. Paulchen war spitze. Paulchen war lustig. Paulchen lenkte mich ab, wenn meine Faust mal wieder in Mutters Möse steckte.

 

Beim Klassenausflug in den Münchner Zoo wurde mir meine Rosaphobie erneut zum Verhängnis. Dabei wollte ich lediglich den armen eingesperrten Affen helfen. Sie mussten sich den ganzen Tag lang unzählige Flamingos ansehen, die in nächster Nähe auf ihren Solettistelzen herumstolzierten. Wenn unter den vielen Affen nur einer war, der nur halb so rosaphob war wie ich, dann konnte er diesen Anblick sicherlich nicht ertragen. Also versuchte ich, die Flamingos mit aus der Distanz geworfenen, faustgroßen Steinen zu verjagen. Als einer umfiel, kam ein Zooheini, brüllte mich an und donnerte mir eine, dass ich - wie der Flamingo - flach dalag und mich im Off befand. Sterne umkreisten mich. Gottseidank nur grüne und blaue.

 

Das war das erste Mal, dass Vater mir auf die Schulter klopfte und sich dabei vor Lachen beinahe anpisste. Hatte ich doch tatsächlich dem schwulen Flamingo aus zehn Metern Entfernung den Garaus gemacht. Vielleicht wurde ja doch noch was aus mir?

 

Als ich zehn war, begann ich Paulchen Panther zu hassen. Das war an dem Tag, als wir unseren ersten Farbfernseher bekamen. Ich stellte fest, dass Mutters fotzenrosa dem von Paulchen erschreckend ähnlich war. Noch bevor Mutter mich auffordern konnte, ihr meine Hand da unten reinzustecken, saß ich am Klo, kotzte und heulte, weil Paulchen, mein einziger Verbündeter, sich plötzlich mit Mutter gegen mich verschworen hatte. Mein Kotzen und Heulen ersparte mir jedoch nicht die anschließende obligatorische Handarbeit.

 

Dass ich mich selbst mit fünfzehn noch keinem Mädchen näher als nötig näherte, begründeten Vater und Mutter mit meiner Lahmarschigkeit, meiner Unfähigkeit Freunde zu finden, meinem ungepflegten Äußeren und meiner Fettleibigkeit im Allgemeinen. Meine Schüchternheit, meine Schweigsamkeit, mein übertriebener Drang zur Selbstbefriedigung, meine nicht vorhandenen Eier und meine grundsätzliche pubertäre Dummheit kamen – aus ihrer Sicht – erschwerend hinzu.

 

Dass ich schlicht und ergreifend Panik hatte, irgendwann mit einer rosa Vulva in Kontakt zu geraten, wenn ich mich mit Mädchen abgab, konnten sie nicht ahnen. Wem hätte ich denn sagen sollen, was Mutter und ihre Libido jeden Freitagnachmittag von mir verlangten, wenn der rosarote Panther im Fernsehen lief? Wem, außer meinem Vater?

 

Noch nie habe ich so ein irres, schallendes Gelächter von ihm gehört. Nicht einmal über den toten schwulen Flamingo und auch nicht über seine eigenen schlechten Witze hat er sich je so amüsiert. Sein fetter, gedrungener Körper bebte vor Lachen und schien mir kurz vor einer Explosion. Wie der kugelrunde Typ bei Monthy Python’s ‚Der Sinn des Lebens‘. Leider hatte ich kein Minzblättchen bei der Hand. Kurz vor dem Platzen hielt er inne, schaute mich mit großen offenen Augen an und sorgte dafür, dass sich sein Handabdruck nachhaltig in meinem Gesicht verewigte und mir gleichzeitig sechzig Prozent meines Hörvermögens abhandenkamen.

 

Als ich mich wieder hochrappelte und gerade vor ihm stand, stellte ich fest, dass Vater lediglich fetter war als ich. Ich war fünfzehn, stabil gebaut und vollgepumpt mit aufgestautem Hass. Er war also nicht größer, dafür war er langsamer als ich. Erheblich sogar. Denn bis er sich sammeln konnte, seine von meiner rechten Faust zertrümmerte Nase realisierte samt dem Blut, das in Bächen über seinen Schnauzer und sein Doppelkinn rann, war ich längst aus dem Haus getürmt. Mitgenommen hatte ich das Bewusstsein, nie wieder von Vater geschlagen oder von Mutter missbraucht zu werden.

 

Zwischenzeitlich ist Vater tot. Schon seit Jahren. Hat sich totgesoffen, totgeraucht und totgefressen. Da musste gar keiner nachhelfen. Was genau letztendlich in seinem Totenschein stand, weiß ich gar nicht. Und Mutter, kein Gramm leichter als mein toter Vater, verendete vor wenigen Stunden auf ihrer Couch, zufällig bei meinem ersten Besuch seit über zehn Jahren.

 

Offiziell verreckte sie an Herzversagen, wie mir der Arzt gerade mitgeteilt hat. Mit dieser Diagnose kann ich gut leben. Der Amtsarzt bemerkte die ziemlich frischen Kratzer, die mir Mutter mit ihren noch immer pink lackierten Fingernägeln verpasst hatte, als sie gegen das rosa Plüschkissen in ihrem Gesicht kämpfte.

 

Machst ja manchmal schlimme Sachen.

 

Am Ende meinte der Amtsarzt teilnahmslos ‚Warst lange weg, Alois. Beileid‘.

 

Über die wir trotzdem lachen.

 

Mir war, als schaute er mich etwas länger an als nötig, fragte sich vermutlich, ob ich …? Dann presste er seine Lippen zusammen, sagte leise ‚Pfüat Gott‘ und ging. Als dann alle weg waren, der Amtsarzt, der Pfarrer, die Leute vom Beerdigungsinstitut und meine fette tote Mutter endlich in einem passenden XXL-Kunststoffsarg aus der Wohnung gekarrt wurde, ging ich aufs Klo und erleichterte mich. Ich spritzte mir eiskaltes Wasser ins Gesicht und erfreute mich an meinem freundlich-befriedigten Grinsen im Spiegel.

 

In diesem Moment fasste ich den Entschluss, mich selbst zu therapieren. Ich musste mich lediglich einer Überdosis rosa aussetzen. Vielleicht für ein paar Stunden, ein paar Tage oder länger. Egal. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass ich es schaffen konnte, schließlich hatte ich heute schon für Minuten ein rosa Kissen in der Hand und mich kratzende rosa Fingernägel im Gesicht. Und ich habe überlebt. Ich!

 

Ich malte mir aus, wie ich bei Aldi Erdbeerjoghurt kaufte und Donuts mit rosa Zuckerguss. Das wollte ich dann alles im Zoo bei den Flamingos genießen, bevor ich mir im Münchner Rotlichtviertel für eine Stunde eine dunkelhäutige Nutte kaufen wollte, bei der das vaginale Rosa noch stärker zum Ausdruck kommen müsste, als ich es mir in meinen schlimmsten Albträumen vorgestellt hatte. Vielleicht gelang es mir sogar, ihre Möse zu berühren? Vielleicht konnte ich sogar an ihr schnuppern, lecken? Mein Gott, alles war möglich. Euphorie überkam mich. Freudenschweißperlen sammelten sich auf meiner Stirn. Ich brauchte jetzt ein wenig rosa. Jetzt! Sofort! Vorab, um mich einzustimmen, mich warm zu machen, so wie Fußballer es vor jedem Spiel tun. Mutters rosa Pillen, die ich im verschmierten Spiegelschrank fand, schienen perfekt. Ohne jeglichen Würgereflex warf ich die erste ein.

 

Wer hat an der Uhr gedreht?

 

Die zweite machte schon fast Spaß und bei der vierzehnten oder fünfzehnten fühlte ich mich wie ein geiler, schwuler, rosa Flamingo.

 

Ist es wirklich schon so spät?

 

Dann schaltete ich den Fernseher ein und zappte solange, bis Paulchen Panther über den Bildschirm spazierte.

 

Mit dem Paul ist Schluss für heut'!